Bis heute Nachmittag habe ich wie alle anderen Menschen auch die Nachrichten zu den Katastrophen in Japan verfolgt, mit großem Mitgefühl und Anteilnahme, mit Angst vor der "Kernschmelze" und ihren Konsequenzen, mit dem Bestreben, das Unfassbare zu fassen.
Fernab deutscher wahlkampftaktischer Apokalypse-Meldungen ist BBC für mich eine gute zusätzliche Informationsquelle.
Und da habe ich ein Bild gesehen: Es zeigt eine Frau mit einer lilafarbenen gehäkelten Mütze auf dem Kopf, darunter ein passendes Oberteil oder Tuch. Sie trägt Mundschutz, hat den Kopf geneigt und die Hände gefaltet. Die Sachen sehen aus, als wären sie selbst gemacht.
Und auf einmal ist das Unglück bei mir daheim. Vielleicht ist sie eine "von uns", eine, die Freude an Handarbeit hat, die zufrieden war mit ihrem Werk und es jetzt mit ein bisschen Stolz trug - oder die einfach nur froh war, dass sie wieder etwas Wärmendes hatte, das sie sich nicht vom Mund absparen musste, sondern selbst machen konnte.
Jenseits aller Apokalypse, ob nun Kernschmelze oder nicht, SuperGAU, das Ausmaß von Tchernobyl oder die Frage von AKW-Sicherheit in Europa: Diese Frau ist real. Sie ist vielleicht so alt wie ich, vielleicht hat sie bis letzten Freitag einfach ein ganz normales Leben in einer ganz normalen Stadt geführt, mit einem ganz normalen Hobby und war eigentlich so ganz zufrieden mit dem, wie sie lebte. Jetzt stimmt nichts mehr davon, nicht nur die japanischen Inseln sind in Aufruhr, auch ihr Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Ich kann mir nicht vorstellen, was es für diese Frau bedeutet, aber ich schaue mir mein Leben an und finde auf einmal einen sehr direkten Bezug zu den Geschehnissen dort.
Ich habe gestern zwei meiner Sockenpaare fertig bekommen, ein Babyjäckchen, ein weiteres Sockenpaar ist in Arbeit und noch eins angefangen. Kann ich das zeigen? Darf ich das zeigen angesichts dieses Bildes, der vagen Vorstellung, die ich von dem Ausmaß dessen erhalte, was diese Frau erlebt?
Ich glaube, dieses Paradox findet sich bei Sartre: Darf ich schreiben, während neben mir ein Mensch verhungert? Oder in meine Welt übertragen: Darf ich mich freuen über zwei Paar neuen Socken, während dort jemand vielleicht nicht das Leben, aber doch alles Vertraute verloren hat?
Ich meine, ich darf. Ich gehe noch weiter: Ich meine, ich muss. Nicht wegen "genieß das Leben, du weißt nie, wann es zuende ist." Sondern weil das das Leben ist. Schön und brutal, langweilig und aufregend, lebenswert und grausam, alles gleichzeitig. Weil mein Leben neben ihrem Leben steht. Gleich und anders, die Existenz, wie sie nun ist. Und ich kann nichts anderes tun, als mich dem zu beugen, zu akzeptieren, dass ich hier in meiner kleinen intakten Welt sitze, während in ihrer nichts mehr stimmt.
Dennoch mag ich heute nichts anderes zeigen als sie.
Until this afternoon I followed the news around the disasters in Japan like everybody else with great compassion, which fear of the melt-down and its consequences, with the desire to comprehend the incomprehensible.
Beyond horror-scenarios motivated by German election-campaigns, BBC is a good additional source of information to me.
There I found a picture: It shows a woman wearing a lilac crocheted hat and a matching sweater or shawl. She also wears a mask, her head is bowed, hands folded. Hat and sweater look as if being hand-made.
And suddenly this desaster is at my home. Maybe she is "one of us", a woman enjoying handcraft, who liked her projects and wore them now with a bit of pride - or maybe she was just happy to have something warm, which was cheap because she crocheted it herself.
Apart from all the apocalypse, melt-down, the extent of Tchernobyl or not, the question of the safety of European nuclear plants, this woman is real. She may be as old as I am, perhaps until last Friday she lived a very normal life in a very normal town with a very normal passion and was quite content with what she got. Now nothing is right any more, not only the Japanese Islands are in uproar, also her life will never be the same it was. I can't imagine what this means to that woman, but I look at my life and suddenly I'm sort of linked to this disaster.
I finished two pairs of socks and a baby sweater yesterday, I'm working at another pair of socks, cast on still one more. May I show that? May I show those in the light of this picture, the vague imagination I get from the extent of what this woman has to go through?
I remember this as a paradox of Sartre: May I produce literature when somebody is starving beside me? Transferred to my reality it says: May I be happy at two pairs of new socks, when at the same time somebody there has lost perhaps not her life, but certainly everything familiar to her?
I think I do. I go even further: I think I have to. Not because of "cherish your life, you never know when it's over". But rather because life is like that. Wonderful and brutal, boring and exciting, worth living and cruel, all at the same time. Because my life stands beside hers. Similar and different, just as it is. I can do nothing else as to yield to this, to accept that I'm sitting here in my intact little world, while hers has gone to pieces.
Still I don't want to show any other pictures today than hers.
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Picture found in this article at BBC. The caption reads "Displaced residents of the Fukushima area were taken to evacuation centres"
Adventskalenderspinnen bis Tag 6
vor 6 Stunden
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